Monte Vista November 2th 1905
Lieber Vater und Schwestern!
Es ist schon beinahe ein Jahr und ein halb das letzte Mal seit ich von Euch gehört habe, so wie ich soeben aus Eurem letzten Brief sehe, und wenn ich mich recht erinnere, habe ich den Brief noch nicht beantwortet. Ich habe gar keine Entschuldigung, daß ich Euch solange gar nicht geschrieben habe. Ich habe es immer aufgeschoben von einem Tag zum anderen und habe Euern Brief oft gelesen und wollte immer schreiben, doch bin ich nicht eher dazu gekommen.
Ich bin bis jetzt noch gesund, was Ihr hoffentlich auch seid. Louis und die anderen sind auch noch gesund. Louis seine Frau hat im März Zwillinge gehabt und sind alle wohl. Ich arbeite jetzt hier in der Stadt bei dem Tag, weiß aber nicht, wie lange ich noch hier bleiben werde. Es ist nicht genug Geld darin.
Louis hat seine Farm letztes Frühjahr verkauft und wohnt jetzt in der Stadt. Er will jetzt vielleicht hier in der Stadt ein Geschäft anfangen. Das Wetter ist jetzt sehr schön hier. Es wird aber jetzt schon ziemlich kalt. Ich denke oft an Deutschland und wünsche oft, daß ich wieder einmal alles dort sehen könnte und noch einmal bei Euch wäre, doch je mehr ich an Euch denke und an meine Jugendjahre, je mehr kann ich sehen, wie groß ein Esel ich war, daß ich nicht wußte, wie wohl ich war und wie gute Zeit ich hatte, doch man lernt ja mit der Zeit, und je älter man wird, je mehr man lernt, daß man nichts wußte und je weniger man weiß. Ich war am Dienstagabend zum Tanze mit einem von meinen Freunden, das erste Mal seit beinahe zwei Jahren. Ich gehe sehr wenig auf Tänze oder irgendwo anders hin.
Was macht Bertha und Robert und Karl? Überhaupt, wie geht es allen von Euch? Ich werde probieren, ein wenig öfters zu schreiben. Ich habe schon seit zwei Jahren nichts mehr von Kansas gehört und weiß nicht, wie es dort geht. Ich will nun schließen und hoffe, daß ich nicht solange auf Antwort zu warten brauche, wie ich Euch habe lassen.
Mit vielen Grüßen verbleibe ich Euer Sohn und Bruder
August
Verzeiht mir, daß ich Euch nicht eher geschrieben habe, doch Ihr wißt ja, wie es geht, wenn man so allein in der Welt herumläuft.
Gruß August
Quelle: "Wir hatten ein schlechtes Schiff..." Briefe eines Westerwälder Amerika-Auswanderers 1892-1914